Verkehrsunfall Leininger Grafen

Ein schwerer Verkehrsunfall - vor 250 Jahren.

Eine medizinhistorische Darstellung.

von Günter Herrmann (1), Per Holck (2), Horst Wilhelm (3).

  1. Kreiskrankenhaus Grünstadt (Chirurgische Abteilung, Leitender Arzt Dr.med. G. Herrmann)
  2. University of Oslo, Anatomical Institute, Anthropological Department
  3. Altertumsverein Grünstadt

Grünstadt, eine liebenswerte Kleinstadt in der Vorderpfalz, liegt zwischen Ludwigshafen und Kaiserslautern am Rande des Rheintales an den Hängen des Haardt-Gebirges. Diese Region wurde früher beherrscht von den Grafen zu Leiningen, später zu Leiningen Westerburg.

Authentisch nachweisbar ist die Geschichte der Leininger Grafen seit Emich dem Zweiten, welcher von 1100 bis 1110 die Stammburg (Alt) Leiningen erbaute. Er gründete auch 1120 das Kloster Höningen. In der Gruft ihrer Basilika befand sich die erste nachweisliche Grablege des Leininger Geschlechts.

In den folgenden Jahrhunderten erlangte das im Leininger Land ansässige Geschlecht der Grafen von Leiningen Bedeutung und Ansehen, so daß zeitweise eine Konkurrenzsituation zu der in Heidelberg residierenden Kurpfalz entstand. Zahlreiche Burgen wurden in der Folgezeit erbaut entsprechend der Vergrößerung des Grafengeschlechtes und dauernden Teilungen in neue Linien bis ins Elsaß hinein.

Nach dem Ende des 30-jährigen Krieges war die Pfalz verwüstet. Der französische Reunionskrieg zog die langsam erblühende Region wieder in Vernichtung und Krieg.

Aber das war nichts gegen die Greuel, die der pfälzische Erbfolgekrieg 1689 mit sich brachte. Die gesamte Pfalz und somit auch die pfälzische Grafschaft Leiningen Westerburg wurde durch die französischen Soldaten systematisch zerstört. So fielen auch die beiden stolzen Stammschlösser der Grafen (Alt- und Neuleiningen) im Frühjahr 1690 den Soldaten Ludwigs des XIV. zum Opfer.

Die Zerstörung dieser Stammschlösser im Leininger Tal sollte sich nun allerdings für den kleinen Flecken Grünstadt zum Vorteil auswirken. So wurde Grünstadt im Jahre 1705 zur Residenzstadt der Grafschaft Leiningen-Westerburg erhoben.

Zwei Brüder, die Grafen Christoph-Christian, Gründer der Altleininger Linie, und Georg der II., Gründer der Neuleininger Linie, traten gemeinsam das Erbe im Leininger Land an. Beinahe 100 Jahre lang residierten die beiden Grafenfamilien in zwei nacheinander erbauten Schlössern “Leininger Unterhof” und “Leininger Oberhof” in Grünstadt.

Martinskirche

Ein Wahrzeichen der Stadt Grünstadt ist die Martinskirche. Eine ältere Kirche wurde schon 1121 erwähnt. Eine gotische Kirche wurde 1494 bis 1520 errichtet (Bauinschrift an der Ostwand). Sie wurde 1689 zerstört.

Die jetzige äußere Form erhielt die Kirche 1727 bis 1736, unter der Regierung des Grafen Georg Hermann. Der Turm stammt bis zur Brüstung aus dem Jahre 1618, Obergeschoß und Helm wurden 1743 in der heutigen Form gestaltet. 1942 ausgebrannt, wurde sie 1951/ 52 wieder aufgebaut.

Unter der evangelischen Martinskirche sind die zwei Grüfte des Grafenhauses Leiningen. Die nördliche Gruft ist die Grablege der Neuleininger Linie, die südliche Gruft die der Altleininger Linie.

Mit Zustimmung des protestantischen Dekanats wurden die Grablegen der Leininger Grafen in der Martinskirche zu Grünstadt am 27. Juli 1999 für eine wissenschaftliche Untersuchung geöffnet.

Es waren schon viele Jahre vergangen, seit man 1908 zum letztenmal die Grüfte untersuchte. Da zu diesem Zeitpunkt die Originalsärge bereits zum Teil verrottet waren, wurden die Gebeine 1908 in neuangefertigte Holzsärge umgebettet.

Die südliche Gruft (Altleininger Linie)

Der Raum hat eine längliche Dachwölbung mit Orientierungsrichtung annähernd Ost/West.

Es waren insgesamt 6 Särge in der südlichen Gruft, alle ohne Tuchbedeckung, die uhrzeigerweise D, E , F, G , H, I bezeichnet wurden. Auf dem Boden lagen mehrere Knochen zerstreut, sowohl Tier- als auch Menschenknochen. Knochen von Katze, Vogel und Schwein waren (auch in den Särgen!) vorhanden. Offenbar waren diese durch die glaslose Fensteröffnung oben auf der Ostwand gekommen wohl mit Ausnahme vom Schwein. Man kann annehmen, daß die Schweineknochen mit der Zeit aus “Spaß” durch das Fenster in die Gruft hinein geworfen wurden. Im Vergleich zu der nördlichen Gruft, wo der Boden mit Backsteinen bedeckt war, war die Unterlage hier nur eine unebene Schicht aus Sand und Lehm.

Für diese Veröffentlichung ist hier nur der Sarg G von Interesse.

Sarg G

Der Sarginhalt war durcheinander. Darunter fand man auch Beschläge und gedrechselte Sargständer aus Holz. Das Skelett war in verhältnismäßig schlechtem Zustand, zum Teil verschimmelt. Das Skelett schien, obwohl ohne markante Muskelansätze, männlich zu sein. Der Unterkiefer war kräftig, mit ausstehenden Kieferwinkeln. Sonst gaben die Knochen einen leichten, osteoporotischen Eindruck. Es waren keine Zähne mehr vorhanden, alle waren intravital ausgefallen (Abbildung).

Schädel aus Sarg G

Am Schädel waren die Nähte unvollständig verschlossen und entsprechen einem Lebensalter von etwa fünfzig bis sechsig Jahren. Allerdings besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen Schädelnahtalter und biologischem Alter. Die übrigen Merkmale am Skelett (Osteoporose, Verkalkungen, vollständiger Zahnausfall etc.) lassen aber vermuten, dass diese Person doch einige Jahre älter gewesen war.

Die Schädelmaße ergaben:

größte Schädellänge: 188mm; größte Schädelbreite: 149mm; Basion-Bregmahöhe: 133mm;größte Stirnbreite: 113mm; kleinste Stirnbreite: 104mm; Nasenhöhe: 51mm; Nasenbreite: 27mm; Jochbogenbreite: 135mm; Augenhöhlenhöhe: 37mm;Augenhöhlenbreite: 41mm; Breite des Foramen magnum: 28mm; Unterkieferkondylenbreite: 129mm; Unterkieferastbreite: 32mm.

Die Schädelindices sind dementsprechend:

Breiten-Längenindex: 79,3; Höhen-Längenindex: 70,7 Höhen-Breitenindex: 89,3 transversaler Frontalindex: 92,0; Nasenindex: 52,9; Augenhöhlenindex: 90,2

Der Schädel wird charakterisiert als “mittellang” (mesokran), “mittelhoch” (orthokran), “schmal” (tapeinokran), “flachstirnig” (parallelometop), mit “breiter” Nasenöffnung (chamaerrhin) und “hohen” Augehöhlen (hypsikonch).

Die Einzelknochen zeigten einige Besonderheiten. Beide Schlüsselbeine waren auf der inneren, medialen Fläche verkalkt, und die erste li. Rippe war mit dem Brustbein verwachsen. 3 Rippen auf der li. Seite zeigten Spuren von geheilten Frakturen (Abbildung).

Verheilte Rippenbrüche

Am Rücken war das ganze vordere Längsband (Lig. longitudinale anterius) teilweise verkalkt. Beide Schultergelenke zeigten erhebliche Verkalkungen, insbesondere auf der li. Seite, was möglicherweise durch langdauernde Überbelastung entstanden sein könnte.

Das Kreuzbein bestand aus 6 Knochensegmenten (anstatt der normalen 5). Auch die beiden Hüftkämme hatten außergewöhnlich stark markierte Muskelansätze. Die Hüftgelenke waren symmetrisch, dem Alter entsprechend.

Auffallend bei dem Skelett waren die großen Veränderungen am li. Knöchel (Abbildung).

Das linke Sprunggelenk

Dieser war stark deformiert durch einen älteren Defekt von traumatischem Ursprung. Es handelte sich offensichtlich um einen in Fehlstellung ausgeheilten Kompressionsbruch. Um diesen Befund weiter abzuklären, wurden Rö. Aufnahmen der li. distalen Unterschenkelknochen in 2 Ebenen angefertigt (Abbildung).

Röntgenaufnahmen linkes Sprunggelenk

Röntgen - Beurteilung

Zustand nach Sprunggelenksfraktur bzw. Pilon tibiale-Fraktur, die im Bereich der Tibia unter Ausbildung eines ventral-konvexen Achsenknickes und erheblicher Deformierung knöchern fest durchbaut ist. Die Ausheilung erfolgte in Form einer Synostose zwischen der distalen Tibia und dem Talus. Die Fibulafraktur ist unter Dislokation nach lateral um doppelte Corticalisbreite und Ausbildung einer knöchernen Brücke zur Tibia in einer Längenausdehnung von 6,5cm ebenfalls knöchern durchbaut. Sklerotische Verdichtung der Tibia mit periostalen Auflagerungen. Die Fibula ist lediglich in den distalen 15cm erhalten. Es ist zu einer Defektbildung der distalen Tibia mit Verkürzung der Tibia und daraus resultierendem Talushochstand gekommen.

Diese schwere Verletzung führte zu einer posttraumatischen Verwachsung des Schienbeins (Tibia) im oberen Sprunggelenk mit dem Sprungbein (Talus), das dadurch etwas nach vorne kippte und offenbar eine normale Gangart verhinderte. Das li. Sprunggelenk ist nach der verplumpten, knöchernen Ausheilung mit Sicherheit steif gewesen und der Fuß selbst wurde wegen der Verwachsungen des Talus in einer Spitzfußstellung gehalten, vielleicht auch etwas nach innen gedreht. Das ganze Schienbein war osteoporotisch und mit deutlichen Zeichen einer Knochenhautentzündung (Periostitis).

Diese Person war auf Grund der posttraumatischen Beinverkürzung li. von zirka 65mm und der Einsteifung im li. Sprunggelenk sicher stark bewegungseingeschränkt. Ein stark hinkender Gang war die Folge. Offensichtlich handelte es sich um einen schweren, wahrscheinlich sogar offenen Trümmerbruch am distalen li. Unterschenkel, welcher aber letztendlich unter Versteifung und Verkürzung sowie Verplumpung der li. Knöchelregion und Fußwurzel ausheilte.

Unter Berücksichtigung der damaligen hygienischen und medizinischen Versorgung können wir sicher von einer Ausheilungszeit in der Größenordnung von mindestens 2 Jahren ausgehen.

Es ist deshalb anzunehmen, daß die Verkalkungen in den Schultergelenken durch langdauernde Anwendung von Stöcken oder Krücken entstanden waren.

Auf der re. “gesunden” Seite, die bestimmt entsprechend überbelastet war, sah man das Schienbein auffallend stark entwickelt, mit vorstehendem Ansatz (Tuberositas tibiae) für die Oberschenkelmuskulatur und wesentlicher länger (zirka 65mm!) als auf der li. Seite (Abbildung).

Beide Schienbeine im Vergleich

Die Person muß also stark gehinkt haben.

Die distale Bandverbindung zwischen den beiden Unterschenkelknochen war verkalkt, was auch hier auf einen Schaden hindeutet.

Die Röhrenknochen hatten folgende Maße:

rechter Oberarmknochen (Humerus): 342mm; rechte Speiche (Radius): 253mm;rechte Elle (Ulna): 274mm; rechter Oberschenkelknochen (Femur): 474mm;linker Oberschenkelknochen (Femur): 475mm; rechtes Schienbein (Tibia): 383mm;rechtes Wadenbein (Fibula): 386mm

Die daraus errechnete Körpergröße ergibt etwa 170cm.

Auf Grund der oben beschriebenen Funde und des Skelettalters handelt es sich hierbei mit großer Wahrscheinlichkeit um den Leininger Grafen

Georg Hermann, Graf zu Leiningen - Westerburg - Altleiningen (1679-1751)

Graf Georg Herrmann

Er war mit Charlotte Wilhelmine von Pappenheim (Sarg “F”) verheiratet und war auch Vater von Christian Ludwig Hermann in Sarg “D”.

Im Jahre 1762 schrieb der gemeinschaftliche Archivrat Johann Ludwig Knoch (also ein Zeitgenosse des Grafen Georg Hermann) einen handschriftlichen Entwurf zu einer verbesserten Genealogie und Historie des uralten hochfreiherrlichen Hauses Westerburg und Runkel, nunmero hochgräflich Leiningen-Westerburg in Specie.

Hier lesen wir auf Seite 178 folgendes über den Grafen Georg Hermann:

Unser nicht gering zu preisender Herr Graf Georg Hermann mußte bei allen diesen weltlichen und frommen Absichten und christlichem Ertragen in seinen alten Tagen ein schweres Unglück erleben, daß ihm bei dem Schlosse durch Ausglitschung der Füße ein schwerer, geladener Wagen über beide Unterschenkel fuhr und zerquetschte, wodurch er bis an sein Ende große Schmerzen und Ungemach auszustehen hatte, jedoch ziemlicher Maßen wiederum restituiert worden.

aus Johann Ludwig Knoch

Nach dieser Darstellung eines “Zeitzeugen” besteht also kein Zweifel mehr, daß es sich bei dem Skelett in Sarg G um den Grafen Georg Hermann aus der Linie Altleiningen handelt.

Graf Georg Hermann war wohl der bedeutendste Graf der Linie Altleiningen im 18. Jahrhundert, geboren am 21. März 1679, diente er in seinen jungen Jahren in der holländischen und in der französischen Armee. 1721 übernahm er von seinem Vater, Christoph-Christian, die Regierung über die Grafschaft.

Graf Georg Hermann brachte die Grafschaft, die durch den vorangegangenen Erbfolgekrieg schwer gelitten hatte, wieder in einen blühenden Zustand.

Am 24. Dezember 1724 heiratete Graf Georg Hermann in zweiter Ehe Charlotte-Wilhelmine, Gräfin und Erbmarschallin zu Pappenheim.

Am 1. April 1727 legte er den Grundstein zum Neubau der Martinskirche in Grünstadt, die im orleanschen Krieg schwer beschädigt war. Für die Altleininger und die Neuleininger Grafenfamilien wurden bei dem Kirchenbau 2 sich gegenüberliegende Erbgrüfte angelegt, welche anläßlich dieser wissenschaftlichen Untersuchung geöffnet werden konnten. Ferner ließ Georg Hermann die Kirche in Tiefenthal erbauen, sowie den von seinem Vater begonnenen Kirchenneubau in Altleiningen vollenden.

Es war ein großer Verdienst des Grafen Georg Hermann, daß er die seit 1630 geschlossene Lateinschule in Höningen 1729 nun in seiner Residenz Grünstadt wieder neu begründete. Auf dem prachtvollen Portrait des Rokoko-Fürsten sind, wohl in Erinnerung an diese Tat, im Hintergrund die Höninger Klosterschulruinen festgehalten worden. Außerdem ließ er an seinem Grünstadter Schloss, dem Leininger Unterhof, einen Lustgarten anlegen. 1750 wurde auf Anregung seiner zweiten Gemahlin das Grünstadter Waisenhaus erbaut, heute Rathaus der Stadt Grünstadt.

Der allseits beliebte Landesherr starb im Jahre 1751 und wurde als erster Graf in der Altleininger Gruft der damals neu erbauten Martinskirche zu Grünstadt beigesetzt.


Dies ist ein Ausschnitt aus dem Buch:

Die Leininger Grüfte. In der Martinskirche zu Grünstadt.

von Günter Herrmann, Per Holck, Horst Wilhelm

ISBN: 3-00-007212-8